Giovanni Aloi
Die Geschichte der Wissenschaft und der westlichen Kunst sind eng miteinander verwoben – beide sind von der Entschlossenheit durchdrungen, Ähnlichkeiten und Unterschiede visuell zu erfassen. Dieser Ansatz hat eine tiefe archivarische Tendenz genährt – den Wunsch, zu ordnen, zu katalogisieren und zu hierarchisieren, der in den letzten fünf Jahrhunderten eine begrenzte Vorstellung von dem, was wir Natur nennen, geschaffen hat. Was wir sehen und die Linsen, durch die wir sehen, machen einen wesentlichen Unterschied zu dem, was wir sagen können. So kann die Mimesis, die die westliche Tradition der naturkundlichen Illustration kennzeichnet, nur einen Teil des Bildes erfassen – oft einen oberflächlichen. Genau diese Art des Sehens hat unsere Beziehung zur übrigen Natur gleichzeitig bereichert und verarmt. Dank der wunderschönen botanischen Illustrationen vieler talentierter Künstler, die mit Wissenschaftlern und Forschern zusammenarbeiteten, haben wir heute Zugang zu einem riesigen Archiv an Informationen über Tiere und Pflanzen. Und doch lassen diese Informationen oft die ökologischen und anthropologischen Wissensnetze außer Acht, die Pflanzen so wichtig für kulturelle Traditionen und Umweltökologien gemacht haben.
Die Geschichte der wissenschaftlichen Visualität im Westen ist tief in Praktiken verwurzelt, die ihrem Wesen nach extrahierend und isolierend sind: objektivierende ästhetische Strategien, die aus männlichen und kolonialistischen Denkweisen entstanden sind. Die Entwicklung neuer ästhetischer Modalitäten zur Darstellung des Nicht-Menschlichen, insbesondere der Pflanzen, stellt eine wertvolle Gelegenheit dar, Handlungsfähigkeit und Schönheit neu zu überdenken, um uns in der Welt nicht als distanzierte und objektive Beobachter, sondern als aktive Teilnehmer zu positionieren, die in eine tiefe und unverzichtbare Verwandtschaft eingebunden sind. In diesem Kontext hilft uns die experimentelle Ästhetik, die in Mikrokosmen zum Einsatz kommt, über die objektivierenden Tropen der frühen Naturgeschichte und Stilllebenmalerei hinauszublicken. Das Ergebnis ist ein visuell herausragender Einblick in eine tiefere Sphäre – eine Dimension der Verbundenheit, in der sich Wissenschaft und Spiritualität nicht mehr gegenseitig ausschließen. Die Bilder der heiligen Pflanzen Amerikas in Mikrokosmen schlagen somit eine Brücke zwischen historischen, technologischen, wissenschaftlichen und künstlerischen Forschungsfeldern und legen den Grundstein für neue ästhetische Ansätze, bei denen sich die verschiedenen kulturellen Traditionen synergetisch gegenseitig verstärken können. Das Ergebnis ist eine vollere, reichere und komplexere Optik – eine bescheidene Neupositionierung des menschlichen Blicks, durchdrungen von einer Art Ehrfurcht und Verwunderung, die die westliche Wissenschaft zu lange verdrängt hatte.
Dr. Giovanni Aloi, School of the Art Institute, Chicago. Gründer und Chefredakteur von Antennae: The Journal of Nature in Visual Culture. Autor von Why Look at Plants? The Botanical Emergence in Contemporary Art.